31. Kapitel
Wir sind da«, verkündete Ismail, und Patrick merkte, dass die Kutsche hielt. Er rührte sich nicht. Alles tat ihm weh: sein Kopf, sein Leib, vor allem aber sein Herz.
Es war nicht ihr Verrat, der so schmerzte, es war diese verdammte, schreckliche Leere in seiner Brust. Sein Herz fühlte sich so hohl an, als ob Violets Dolch es tatsächlich durchbohrt hätte. Aber er hatte noch einmal Glück gehabt. Ihr Wurf war knapp daneben gegangen. Er tastete nach der Wunde unter seinem Mantel. Sie war bereits zugewachsen.
»Es ist dein Territorium, Highlander, du hast hier das Sagen. Aber ich kann die Befragung für dich übernehmen, wenn du willst.«
Patrick verzog das Gesicht. Ismail war besorgt, und das nicht zu Unrecht. Wenn Violet seine Fragen nicht beantwortete, würde er ihre Gedanken lesen müssen - ob sie wollte oder nicht. Und wenn sie sich wehrte... Er könnte ihrem Geist permanenten Schaden zufügen.
Patrick wusste nicht, ob er das fertigbrachte. Ob er seinem Freund erlauben konnte, es zu tun. Aber ihm blieb keine Wahl.
»Highlander?«
Patrick verließ wortlos die Kutsche und schritt durch den frischen Schnee auf die Hütte zu. In Gedanken wappnete er sich für die bevorstehende Begegnung mit ihr. Er durfte nicht weich werden. Sie hatte versucht ihn zu töten. Und er war überdies das Oberhaupt seines Clans. Seine und die Sicherheit seiner Leute stand auf dem Spiel. Violet war höchstwahrscheinlich eine Jägerin, dazu ausgebildet, Vampire zu töten.
Die Wachen nickten und traten ehrerbietig zur Seite. Beide Männer betraten die Hütte, Patrick als Erster.
»Patrick?« Violet stand in einer Ecke des leeren Raums. Ihre Hände waren gefesselt. Sie trug immer noch ihr Ballkleid, aber es war blutverschmiert.
Mein Blut, dachte Patrick grimmig.
»Enttäuscht, dass du mich nicht getötet hast?«, fragte er sarkastisch.
»Nein, ich...« Sie machte ein paar Schritte auf ihn zu.
»Halt! Bleib, wo du bist!«, befahl er.
Violet blieb sofort stehen. Auf ihrem Gesicht zeichneten sich Verzweiflung und Kummer ab. Wut flammte in Patrick auf. Wie konnte sie ihn so ansehen? Wie konnte sie es wagen, auch jetzt noch so zu tun, als ob ihr etwas an ihm liegen würde? Seine Brust drohte zu zerspringen; der Schmerz war unerträglich. Wie hatte sie es bloß fertiggebracht, dass er sich in sie verliebte?
»Auf das, was du getan hast, steht der Tod.« Die Worte waren heraus, ehe er es verhindern konnte. Aber sie hatten nicht die beabsichtigte Wirkung: Violet straffte die Schultern. Sie sah aus wie eine unschuldige Märtyrerin und nicht wie eine kaltblütige Mörderin.
»Vielleicht solltest du sie befragen, Clanführer?«
Ismails Betonung seines Titels brachte ihn wieder zur Besinnung. Er durfte sich nicht von seinen Gefühlen überwältigen lassen. Er war das Oberhaupt seines Clans, verflucht noch mal! Alles andere war nebensächlich. Beherrscht stand er still, obwohl er am liebsten auf und ab gerannt wäre. »Nun gut, fangen wir ganz von vorne an. Wie hast du von uns erfahren?«
Violet stellte sich wieder in ihre Ecke. Patrick wartete, aber sie sagte nichts.
Abermals begann es in ihm zu brodeln, er wusste selbst nicht, warum.
»Wer hat dir von uns erzählt? Gibt es noch andere Jäger? Antworte, verdammt noch mal!«
Sie schwieg. Sie gab nichts zu, aber sie verteidigte sich auch nicht. War es das, was er wollte? Dass sie zugab, alles sei nur ein bedauerlicher Irrtum gewesen?
Er schaute in ihr bleiches, gefasstes Gesicht, seine Augen glitten über ihre lose herabhängenden Haare, ihr besudeltes Kleid. Er liebte sie immer noch, und er war bereit, ihr zu vergeben. Wenn sie sich doch bloß verteidigen würde - er würde ihr vergeben. Wollte ihr vergeben. Wollte ihr glauben.
Aber sie schwieg.
Violet lehnte sich an die Wand und schloss die Augen, als sei das alles ein Witz, den sie einfach ignorieren konnte.
War er das für sie gewesen, ein Witz? Hatte sie ihn hinter seinem Rücken ausgelacht? Hatte sie sich gefreut, wie leicht es gewesen war, ihn zum Narren zu halten?
»Was ich nicht verstehe, Jägerin, ist, warum du bis zum Ball gewartet hast, um Patrick zu töten, wo du doch zuvor etliche bessere Gelegenheiten hattest«, meldete Ismail sich zu Wort. Eine durchaus berechtigte Frage, fand Patrick. Aber bevor er reagieren konnte, sprach Violet.
»Ihn wollte ich doch gar nicht töten! Ich würde ihm nie etwas antun! Du warst es, der sterben sollte, Ismail!«
Stille.
Violet kämpfte mit ihren Gefühlen. Sie hatte ihren Vater enttäuscht und den Mann, den sie liebte, beinahe getötet. Nicht zum ersten Mal an diesem Morgen drehte sich ihr der Magen um.
Nie hätte sie gedacht, dass sie einen schlimmeren Tag erleben könnte als jene erste Nacht im Wald, blind, hungrig und frierend. Voller Angst. Aber ihre Angst damals war nichts im Vergleich zu der tiefen Reue, die sie jetzt empfand, die ihr das Herz wie mit Messern zerschnitt. Sie wollte fort, wollte davonrennen.
Fort von Patrick, der sie jetzt hasste, fort von Ismail, den sie jetzt nie mehr zur Rechenschaft würde ziehen können. Fort von sich selbst.
»Warum?« Ismail trat näher, sein Geruch wurde stärker. Hasserfüllt ballte sie die Fäuste. Wenn sie doch bloß eine Waffe gehabt hätte, irgendetwas!
»Warum ich?« Ismail blieb vor ihr stehen. Seine Stimme war vollkommen ruhig. Er hatte keine Angst. Wieso auch? Er war ein Bluttrinker, ein Halunke, der Menschen ohne mit der Wimper zu zucken tötete. Ungestraft tötete. Sie biss die Zähne zusammen. Es gab nichts mehr, was sie tun konnte. Man hatte sie gefangen, hatte ihr die Freiheit geraubt. Und bald würde man ihr auch das Leben nehmen.
Das Einzige, was sie noch tun konnte, war, ihre Antworten für sich zu behalten. Nein, sie würde ihnen nicht die Befriedigung geben, alles zu erklären.
Eine erbärmliche Rache, aber es war alles, was ihr noch blieb.
»Beantworte die Frage«, befahl Patrick. Seine Stimme klang eigenartig leer, ohne die Bitterkeit, mit der er sie zuvor angefahren hatte.
Patrick hatte alles Recht, bitter zu sein. Sie hatte ihn ja tatsächlich benutzt, um sich an Ismail zu rächen. Obwohl sie ihn liebte.
Sie schwieg. Plötzlich verspürte sie ein eigenartiges Kribbeln im Kopf, ein dumpfes, schmerzhaftes Pochen. Jemand versuchte ihre Gedanken zu lesen. Wer? Es spielte keine Rolle. Violet wusste, was zu tun war. Sie atmete ruhig und langsam, versuchte an nichts zu denken.
Sie konzentrierte sich auf die Dunkelheit, die alles war, was ihre Augen sahen. Keine Farben, keine Formen, nichts als Schwärze. Eine endlose Leere.
Die Kopfschmerzen vergingen.
Ismail zog sich von ihr zurück. »Sie weiß, wie man ein Eindringen abblockt.«
»Dann muss sie eben hungern. Mal sehen, ob ihr das die Zunge löst«, befahl Patrick barsch. Kurz darauf waren sie fort.
Violet war allein. Allein mit dem Geruch des Mannes, den sie hasste, und mit dem Geruch des Mannes, den sie liebte.